Heute bin ich zeitig unterwegs, denn der Acadia Nationalpark ist einer meiner Höhepunkte auf dieser Rundreise. Als ich Tini – der liebenswerten Indonesierin aus dem Inn – beim Frühstück gestern erzählte , dass ich heute hierher fahren werde, strahlten ihre Augen und verstärkten meine Vorfreude noch einmal mehr.
Knapp 400 Kilometer sind es von Jackson nach Bar Harbor – auf kleinen Landstraßen mit einem Ausblick auf Wälder, Seen und Flüsse, dass man gut das Doppelte an Zeit aufwenden könnte, würde man an jedem Aussichtspunkt einen Fotostopp einlegen. Ich begnüge mich mit dem Aufsaugen der Augenblicke beim vorbeifahren und hoffe, diese Eindrücke niemals zu vergessen. Kein Foto kann diese Farbenpracht tatsächlich so wiedergeben, wie die Natur sie gemalt hat.
Die Route hatte ich noch im Inn auf meinem Smartphone abgerufen. Das GPS funktioniert auch tadellos offline. Leider nur solange, bis man vom Weg abkommt. Viel zu spät sehe ich, dass ich mich verfahren haben. Das Einschalten der mobilen Daten bringt gar nichts – hier in dem Naturparadies der Berge gibt es einfach mal kein Netz. Erkenntnis des Tages : niemals ohne Straßenkarte unterwegs sein. Meine Orientierung entspringt einem ungefähren Gefühl für die richtige Richtung. Hinzu kommt, dass Ortseingangsschilder oder Vorwegweiser eher die Ausnahme sind. Ich bin irgendwo im Nirgendwo und ein wenig sauer auf mich selbst. Nach einer knappen Stunde habe ich wieder Netz und bin dazu auf dem richtigen Weg.
Am Nachmittag komme ich im Cleftstone Manor, dem nächsten Inn auf meiner Reise, an. Das Eigentümer-Ehepaar ist mir auf Anhieb sympathisch. Als ich ankomme, sitzen beide aneinander angekuschelt am Kamin in der Lobby.
Mein Zimmer ist hübsch und schnell bezogen und schon bin ich auf dem Weg, mir die Umgebung anzuschauen. Das Besondere am Acadia Nationalpark ist, dass er am Meer liegt und von Bergen umrandet ist – was für eine faszinierende Kombination.
Das Städtchen Bar Harbor ist wirklich sehenswert und nach einem ausgiebigen Blick auf den Hafen gibt es eine Lobster Roll, das ist eine Art Hot Dog – statt mit Würstchen mit frischem Hummer gefüllt – köstlich, einen Coffee to go und ein zeitiges Gute Nacht.
Am nächsten Morgen sitze ich mit einem sympathischen Paar aus Minnesota beim Frühstück. Wie immer wieder üblich, werde ich spätestens nach dem dritten Satz gefragt, was ich denn beruflich mache. Noch ist die Antwort einfach. Doch wie werde ich die Frage in Zukunft beantworten?
Das Thema nehme ich mit auf meine heutige Tour in den Acadia Nationalpark. Mein erster Halt ist am Jordan Pond, einem traumhaft schönen See, den es zu umrunden gilt. Und da ich zeitig unterwegs bin, ist es noch sehr ruhig hier und ich hänge meinen Gedanken nach.
Ich erinnere mich an die Frage, die mir Silke, mein Coach, eigentlich mit auf den Jakobsweg gegeben hatte und der ich jetzt mit Blick auf diesen Ruhe ausstrahlenden Jordan Pond einmal nachgehen möchte.
Wer bin ich wirklich :
Yvonne , 48 Jahre , Atheistin oder sagen wir eher Religionungebunden – vertraue ich doch auf die Kraft des Universum.
Ostdeutsche, Europäerin, Weltenbummlerin. Familienmensch und doch auch Einzelgängerin, Freundin, Mentorin und Mentee. Mitfühlend, einfühlend, emotional, manchmal über das Ziel hinausschießend. Neugierig, unerschrocken (ignorieren wir dabei einfach mal geröllige Bergabstiege), wissensdurstig, hinterfragend
Kämpfend, ehrgeizig , manchmal egoistisch, selten aufgebend.
Bloggerin, Hobbyfotografin, Reisende, Eventmanagerin, Organisationstalent.
Pilgerin auf der Suche nach dem eigenen Ich. Sensible, sich selbst in Frage stellende. Glücksmomente genießende (jetzt hier am See), große Emotionen vermissende – ausgelassenes Lachen, heilsames Weinen. Das Leben liebende – zumindest an den meisten Tagen …
Was davon eignet sich als Antwort auf die Frage der beiden aus Minnesota in Zukunft ?
Einen Teil des Sees umrundet man auf Holzbohlen, um die Natur zu schützen. Ich sehe meinen Schatten auf dem vor mir liegenden Weg. Symbolisiert er meinen Lebensweg ? Die Bohlen nicht glatt, der Weg nicht gerade, aber immer richtungsweisend nach vorn. Licht und Schatten wechseln sich ab.
Ein gutes Gefühl, doch dann liegen große Steinbrocken vor mir, die es zu überwinden gilt. Feste Steine, kein Geröll. So klettere ich trittsicher darüber, habe Freude an der Herausforderung, keine Angst. Eine Vorausschau auf Widerstände, die vor mir liegen, die aber zu meistern sind? Vielleicht ein bisschen viel Interpretation.
Doch nach dem felsigen Teil wird der Weg sanft. Und so erreiche ich entspannt den Ausgangspunkt meiner Wanderung. Kreislauf des Lebens?
Genug philosophiert. Im naheliegenden Jordan Pond House gibt es einen leckeren Muffin, einen Kaffee und einen unvergleichlichen Blick auf den See.
Später schließe ich mich den anderen Touristen an, die zumeist nur wegen der Autofahrt auf den Cadillac Mountain in den Nationalpark kommen. Die Fahrt ist entspannt, die Aussichtspunkte machen atemlos. Der Name ist Programm – Cadillac. Ich assoziiere damit mein offenes Verdeck bei herrlichem Sonnenschein. Mendelssohns Violinkonzert in e-Moll begleitet mich. Die Szenerie ist vollkommen.
Der unvergleichlicher Ausblick auf dem Atlantik an einem der Overlooks lässt mich spontan halten. Eigentlich bin ich nur ausgestiegen für dieses eine Foto. Doch dann entdecke ich den Pfad, der mich magisch anzieht. Kunstvoll aus dem Fels gesprengt, wurde er einst von Steinmetzen angelegt. Ich laufe die glatten Steine hinunter, immer das Meer im Blick. Ich kann gar nicht genug bekommen. Nur die Vernunft lässt mich irgendwann umkehren. Das Cabrio steht offen, außer der Kamera habe ich nichts dabei. Ich überlege , für den Sonnenuntergang zurückzukehren.
Der Gipfel ist dann mit dem Auto schnell erreicht und sehr touristisch.
Ich halte nur kurz und fahre dann weiter zum Sands Beach. Noch einmal am Sandstrand stehen.
Auch hier gibt es einen Ocean Trail, doch nachdem ich die ersten Felsblöcke erklettert habe, verlässt mich die Kraft und ich kehre um.
Treffe auf einen Fotografen der mir lächelnd zuruft, dass wir uns heute schon das drittemal begegnen und mir fällt nur ein, ihm zu entgegnen, dass das stimmt. Wann habe ich eigentlich das Flirten verlernt? Vielleicht hätten wir gemeinsam den Sonnenuntergang fotografieren können ? Na egal, ich bin ganz schön geschafft. Kann man sich auch an intensiven Eindrücken so übersättigen, dass einem schlecht davon wird? Fast hat es den Eindruck, die Vernunft siegt und ich kehre in mein Inn zurück
Nach einer kurzen Erholungspause geh ich aus zu einem zeitigen Dinner.
Dann packe ich meine Sachen, morgen starte ich früh. 650 Kilometer die Küste entlang zurück nach Boston und weiter nach Cap Code liegen vor mir.
Wer hat sich eigentlich diese Route ausgedacht ?
Sylvia
Liebe Yvonne, dein Suchen ist mir so vertraut. Auch dein Zweifeln. Und das immer wieder neu in dir/mir erwachende Vertrauen, dass alles gut wird, wenn wir sind, wer wir wirklich sind. Ich bin fest davon überzeugt, dass du belohnt werden wirst für deinen Mut, Altes, inzwischen Überholtes, loszulassen. Wenn du verstehst, dass alles, was du bisher getan hast, dir helfen wird auf dem Weg, den du in Zukunft gehen wirst. Was das konkret sein wird, wird sich mit der Zeit klären. Und ich bin sicher, es wird so bunt sein wie der Indian Summer, durch den du gerade reist, um letztlich dir selber noch näher zu kommen. Schau doch mal unter dem Stichwort „millionways“ ins Netz – ich glaube, das ist inspirierend für dich …