Es ist 21 Uhr als unser Nachtzug nach Gaya einfährt. Entgegen meiner Vorstellungen (wie ja fast alles auf meiner Reise) gibt es eine sehr ordentliche Reihe, in der wir alle anstehen.
Ein Zugticket in Indien zu kaufen, ist wohl nicht ganz einfach. Glücklicherweise hat das für uns die Reiseagentur übernommen. Schmunzelnd sehe ich mir den digitalen Aushang zu unserem Zug an. Hier erfahre ich den Namen, das Geburtsdatum und Infos zur Reise von jedem einzelnen Passagier. Der Datenschutz hat an dieser Stelle offensichtlich noch keinen Einzug gehalten.
Eng ist es im Schlafwagen der 1. Klasse. Braune Vorhänge trennen die Doppelstockliegen vom Gang und gewährleisten so etwas Privatsphäre. Leonor organisiert hin und her, bis sie uns alle gut untergebracht hat.
Für jeden Platz gibt es ein Paket mit Laken und Wolldecken, die nicht ganz so vertrauenserweckend aussehen. Was bin ich froh, dass ich meinen superdünnen Schlafsack und meine eigene Reisedecke dabei habe.
Der Zug rattert durch die Nacht und bald kehrt Ruhe ein. Keine Durchsage auf den Bahnhöfen unterbricht die Stille. Nur das Rattern des Zuges auf den Schienen ist zu hören. Die Stationen gleiten gesichtslos an uns vorbei. Gut, dass Leonor den Wecker gestellt hat, sonst würden wir 5 Uhr morgens den Ausstieg mit Sicherheit verpassen. Gedanken ziehen durch meinen Kopf, lassen das Erlebte Revue passieren, bis ich sanft wegdämmere …
„Aufstehen – wir sind gleich da“. Leise trommelt Leonor uns zusammen, damit wir die anderen im Zug nicht wecken. Schon stehen wir auf dem einsamen, eiskalten Bahnsteig in Gaya. Wir sind in Bihar angekommen, einem der ärmsten Bundesstaaten Indiens und wohl auch einem der widersprüchlichsten. Buddha fand hier unter dem Bodhibaum seine Erleuchtung und Gandhi startete seine Bewegung des gewaltfreien Widerstandes gegen die Engländer. Auf der anderen Seite leidet Bihar unter einer mangelhaften Infrastruktur, gewalttätigen Kastenkonflikten und Korruption und Gesetzlosigkeit.
Uns führt der Besuch Bodhgayas nach Bihar, dem spirituellen Zentrum des Buddhismus. Jedes Land, in dem der Buddhismus aktiv praktiziert wird, hat hier einen Tempel gebaut.
Auf diesem Ort hatte ich mich mit am meisten gefreut. Doch was auch bei den Orten galt, die mich positiv überrascht haben, weil sie ganz anderes waren als in meiner Vorstellung, gilt nun das erste Mal in die andere Richtung. Die Realität hat wenig mit meiner Vorstellung zu tun.
Unser Gepäck wird auf das Dach des Reisebusses verladen, denn in dem schmalen Fahrzeug ist kaum Platz für uns.
Eine Heizung gibt es nicht. Dafür eine gesetzliche Bestimmung, dass im Bundesstaat Bihar das Fahrerfenster geöffnet sein muss. Vor Kälte klappernd und übernächtigt steigen wir ein. Gut dass ich erst später in meinem Reiseführer lese, dass man bei Dunkelheit den Weg von Gaya nach Bodhgaya meiden sollte – Banden überfallen hier auch schon gern einmal Fahrzeuge und rauben sie aus.
Leonor tut wie immer das einzig Richtige. Sie lässt den Bus noch in Gaya halten und bestellt am Straßenrand für uns alle den besten Masala-Chai aller Zeiten, der uns durchwärmt und unsere Lebensenergien wieder weckt.
In unserem Hotel pfeifft es aus allen Ecken und Kanten. Nur das Restaurant, in dem wir frühstücken, ist so warm, dass wir langsam wieder auftauen.
Hatte ich mich riesig auf meine Dusche nach der Zugfahrt gefreut hatte, wird mein Vorfreude schnell gedämpft. Auch das Wasser ist eiskalt und durch das Badefenster strömt genauso kalte Luft ein. Wer mich kennt, weiß, dass es für mich nicht viel schlimmeres gibt, als zu frieren. Nur die Kombination aus Übermüdung und Kälte kann das toppen. Entsprechend ist meine Laune, als wir uns kurze Zeit wieder in der Lobby treffen.
Die ersten Tempel, die wir besichtigen, nehme ich nur schemenhaft wahr. Viel mehr beschäftigt mich, immer wieder die Schuhe ausziehen zu müssen. Dafür ist es viel zu kalt. 3 Grad und leichter Nieselregen – auch das ist Indien. Zumindest in dieser Jahreszeit.
Erst die lebhaften Mönche beim Giant-Buddha lassen mich aus meinem Nebel wieder auftauchen.
Mittags wärmen wir uns in dem kleinen tibetischen Om-Café wieder auf. Neben heißem Tee und wärmender Suppe sind das Highlight die Yak-Decken, Mützen und Handschuhe, die es hier zu kaufen gibt. Fast jeder aus unserer Gruppe deckt sich hier ein und mummelt sich in die von uns liebevoll bezeichneten „Hunde-Decken“, die uns bis zum Ende unserer Reise begleiten werden.
Der ganze Ort wimmelt von Menschen. Von November bis Februar ist Bodhgaya Gastgeber für eine lebhafte Gemeinschaft von Exiltibetern und Tibetfreunden aus aller Welt. Auch der Dalai Lama ist schon angekommen, der nach unserer Abreise hier Vorträge halten wird.
Wo viele Gäste sind, da sind noch mehr Händler. Hatte ich mir unseren Besuch eher meditativ ruhig vorgestellt, werde ich schnell eines Besseren belehrt. Die Geräuschkulisse von hupenden Autos und um Kundschaft buhlende Verkäufer bringt mich an meine Grenzen.
Das ändert sich erst wieder, als wir bei der langsam einsetzenden Dämmerung das Gelände des Mahabodhi-Tempels betreten.
Anders als die meisten Tempel Indiens strahlt diese Unesco-Weltkulturerbestätte eine friedliche und ruhige Atmosphäre aus und zieht uns in ihren Bann. Mobiltelefone sind streng verboten, so lenken auch keine Fotomotive meine Gedanken ab. (Die Fotos hier sind von Leonor und Sibylle, die mit der erlaubten Kamera unterwegs waren)
Die elegante, 55 m hohe Turmspitze des Mahabodhi-Tempels ist vom gesamten Umland aus sichtbar.
In dessem Innenraum befindet sich eine große vergoldete Buddhastatue befindet. Wir reihen uns in die Schlange der Mönche, um einen Blick auf ihn werfen zu können.
Die eigentliche Attraktion befindet sich hinter dem Tempel, wo der große Bodhi-Baum wächst, der sowohl Gelehrte als auch Meditierende anzieht. Er ist allerdings nur ein Ableger des Baums, unter dem Buddha die Erleuchtung fand. Pilger binden bunte Fäden an seine Zweige und lassen ihre Wünsche da.
Auf den großen Rasenflächen rund um den Tempel praktizieren Tibeter ihre Niederwerfungen.
Auf Brettern, mit Handgleitern und Zählern am Zeigefinger ausgestattet, werfen Sie sich nieder, manchmal mehr als tausendmal am Tag. Ob jung oder schon älter, männlich oder weiblich, alle gleiten wie beim Vinyasa Flow zu Boden, um sich sofort wieder zu erheben. Zunächst bin ich etwas verwirrt, ist doch gerade der Buddhismus eine atheistische Religion, in der es nicht um Anbetung geht. Später lese ich im Internet nach, wie Tibeter diese Handlung beschreiben:
„Nein, wir beugen nicht unser Haupt. Zu mühselig war die Befreiung von einem religiösen Dogma, zu hart erkämpft unsere Individuation. Wir wissen was richtig ist und was falsch, haben unser Leben im Griff und brauchen keinen anderen dazu. Doch durch die Niederwerfungen kann sich dieser harte Panzer in eine Sehnsucht verwandeln, nach dem was größer ist als wir. Eine leidenschaftliche oder auch kindliche Sehnsucht nach Sinn und Erfüllung, Zugehörigkeit, Schutz, Trost, Vertrauen und Führung. Wir verneigen uns vor unserer eigen innewohnenden Buddha Natur. Wir verneigen uns vor dem, was größer ist als wir, vor dem was unfassbar ist, vor dem was strahlend, klar und weise ist.“
Dem nun wiederum kann ich gut folgen. Ist dies doch einer meiner Gründe, warum ich mich für die spirituelle Rundreise entschieden hatte: Die Sehnsucht nach Sinn und Erfüllung, Zugehörigkeit, Schutz, Trost und Vertrauen.
Ob ich gefunden habe, was ich suchte? Das erfährst du, wenn du mich weiter auf meiner Reise begleitest 🙂
Astrid Best-Botthof
Vielen Dank, liebe Yvonne, für Dein mitnehmen und Deine lebendigen Worte, die spüren lassen, wie Du alles erlebst 🙏😃💖
Brigitte
So spannend und so oft außerhalb jeder Komfortzone😉, liebe Yvonne- deine Berichte sind so wunderbar und ehrlich 👍💎🙏Dankeschön fürs Mitnehmen( auf dem warmen Sofa😁).
Elke
Na das war ja mal ein spannendes Abenteuer über Nacht im Zug! Ich habe es ja nur zu einer unspektakulären Tagesfahrt gebracht.
Danke, dass du mir diesen offenbar recht widersprüchlichen Ort näher gebracht hast. Zum Glück spüre ich beim Lesen nicht die Kälte, die dich dort so gebeutelt hat. Ich habe dennoch den Eindruck, dass du den Besuch dort nicht bereut hast, auch wenn die Atmosphäre zum Teil nicht sehr meditativ war. Indien kann herausfordernd sein. Aber wem sage ich das 😎?