Yvonnes Reisen

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Zwischen Stille und Lärm in Kalkutta – Tag 2

Der heutige Morgen gehört Kali, der Schutzgöttin Kalkuttas, von der die Stadt auch ihren Namen hat. Wer ist diese unheimliche Göttin, die Millionen von Inder in ihren Bann zu ziehen vermag?  In ihrer furchterregenden schwarzen Gestalt, mit herausgestreckter Zunge, Schädelgirlande um den Hals, Messer und Dämonenkopf in den blutigen Händen, verkörpert sie den Sieg des Guten über die feindlichen, dämonischen Mächte. Doch wie alles hat auch sie zwei Seiten, denn hinter ihrer schrecklichen Erscheinungsform verbirgt sich für den gläubigen Hindu das Urbild der liebenden Mutter und die Erkenntnis, dass Leben und Tod, das Schreckliche und das Schöne des Daseins einfach zueinander gehören. Einmal mehr Anlass, sich nicht vom äußeren Schein trügen zu lassen, sondern dahinter zu sehen.

 Zeitig sind wir unterwegs nach Belur Math, nördlich von Kalkutta.

Belur Math ist der Hauptsitz der Ramakrishna Mission. Ramakrishna war ein berühmter indischer Mystiker des 19. Jahrhunderts. Als Hinduist zur Göttin Kali betend, war er auch offen für andere Religionen, insbesondere für den Islam und das Christentum. Seine Erkenntnis war, dass sie alle zu demselben Gott führen. Um wieviel entspannter wäre diese Welt, wenn sich diese Erkenntnis durchsetzen würde?

Sein Schüler, Swami Vivekananda, ein hinduistischer Gelehrter, gründete die ‚Ramakrishna-Mission‘ als Dienstleistungsorganisation für die Bevölkerung. Das Anliegen dieser ist nicht nur, die Lehren des Meisters zu verbreiten, sondern vor allem soziale und kulturelle Arbeit zu leisten und zwar für alle Menschen ungesehen ihrer Kaste, Religion oder Nationalität. Praktisch bedeutet dass, das die Mission Schulen, Krankenhäusern, Waisenhäusern, Clubs und Bibliotheken errichtet hat.

Auch Vivekananda war also offen für alle Religionen. Folgerichtig ist dann auch, dass die äußere Erscheinung des Tempels Belur Math – der Hauptsitz der Mission – eine Mischung aus Kirche, Tempel und Moschee ist.

Der Innenraum ist völlig leer und so kann jeder für sich entscheiden, wem oder was er seine Gedanken widmet oder einfach den Moment meditierend genießt.

Und dann ist es soweit: Wir laufen durch den ausgedehnten Garten von Belur Math zum heiligen Fluss, an dem die Inder beten. Ein rituelles Bad im Ganges gilt als Pflicht im Leben jedes Hindu, um Sünden abzuwaschen und den Kreislauf von Tod und Wiedergeburt zu brechen. Das ganz große Problem ist allerdings, dass der heilige Fluss heute eher eine Kloake ist, in dem Fäkalien, Chemikalien, Leichen und Müll schwimmen. 1,5 Mio Kolibakterien pro Deziliter werden im Durchschnitt gemessen. Schon in viel geringerer Menge können die Bakterien lebensgefährliche Krankheiten auslösen. Alle Versuche, den Ganges zu reinigen, sind bisher fehlgeschlagen. Nicht allein deswegen, weil die Inder glauben, dass sich der Fluss von alleine reinigt.

Nun stehen wir hier also an den Ghats, so werden die breiten Stufen genannt, die klassisch zum Fluss herabführen, betrachten das Geschehen und erfahren, wie die Göttin Ganga vom Himmel abstieg. In der Mythologie der Hindus geht die gängigste Geschichte so: Der weise Bhagiratha wollte die Ganga, die nichts anderes als die Milchstraße am Himmel ist, auf die Erde holen und bat Shiva, den Gott der Schöpfung und der Zerstörung um Hilfe. So fing Shiva die Wassermassen in seinem verfilzten Haar auf und lies sie sanft zur Erde gleiten. Auf diese Weise entstanden nicht nur die fünf heiligen Flüsse Indiens, sondern eben auch viele Nebenarme. An einem solchen stehen wir hier. Denn Kalkutta liegt wie bereits erwähnt nicht am Ganges, sondern am Hooghly, einem sehr beeindruckenden Mündungsarm des heiligen Flusses.

Über diesen setzen wir  mit der Fähre über, um den Dakineshwar-Kali-Tempel zu erreichen, dessen Schönheit schon von weitem zu erahnen ist.

1855 wurde der Tempel zu Ehren der Göttin Kali eingeweiht. Sie ist die Göttin des Todes und der Zerstörung, aber auch der Erneuerung.

Der Ort ist weltweit als Pilgerort bekannt und entsprechend viele Hindus stehen hier in langen Schlangen, um ihre Göttin zu ehren. Frauen in bunten Saris, Männer und Kinder gehen langsam Schritt für Schritt dem Tempel entgegen. Es wird nicht gerangelt, laut geredet, Smartphone geguckt oder geschimpft – einfach ein Platz des Friedens.

Leonor schafft es, uns ziemlich weit vorn in die Schlange zu schmuggeln und ringsum um Verständnis zu bitten, dass wir leider nicht soviel Zeit haben. Die meisten nehmen es gelassen hin. Fast schäme ich mich ein bisschen, doch möchte auch ich ein Blick auf die schwarze Göttin werfen, die zwei Seiten hat. Hier spürt man ihre friedliche, die Menschen vor den Dämonen beschützende Seite. Ihre Zerstörungsenergie werden wir morgen zu spüren bekommen, doch davon ahnen wir noch nichts.

In der Sonne auf den Stufen sitzend betrachten wir den Tempel und lassen die friedliche Atmosphäre auf uns wirken. Einer dieser Momente, der niemals vergehen möge. Doch es gibt noch soviel zu entdecken und so fahren wir in die Stadt zurück.

Jeder Augenblick hat hier etwas anders zu bieten. So hat zum Beispiel jede Straße  ihre eigene Bestimmung. Gerade kommen wir durch die Straße der Schreiber. Auch im Zeitalter, in dem bereits 400 Mio Inder ein Smartphone nutzen, sitzen Schreiber an mechanischen Schreibmaschinen aus einer längst vergangenen Zeit. Buchstabe für Buchstabe tippen sie Amts-, Liebes- oder Drohbriefe für Menschen, die des Schreibens nicht mächtig sind.

Wir erreichen Kumartuli – ein Viertel in Kalkutta groß wie eine Stadt. In jeder Gasse befinden sich gleich mehrere Töpferwerkstätte, in welchen Skulpturen von diversen Hindu Gottheiten wie Durga, Kali, Saraswati und Ganesha hergestellt werden.

Ganze Familien leben und arbeiten hier.

Derzeit ist es etwas ruhiger, doch sobald ein neues Fest ansteht, entstehen hier überlebensgroße Skulpturen aus Flussschlamm. Zuerst werden Puppen aus Draht und Stroh gefertigt, dann wird der Lehm darum geformt.

Je nach Größe brauchen die Töpfer ein Gerüst für die Stabilität und manchmal werden die Skulpturen auch direkt auf den Wagen gefertigt, die sie dann zu ihrem Zielort bringen.

Letzteres finde ich sehr spannend, wenn ich mir die engen Gassen anschaue. Die ruhige Zeit wird für die Straßensanierung in Handarbeit genutzt.

Wie solch ein Endprodukt auf einer Bühne dann aussehen kann, entdecken wir auch.

Wunderbare Kunstwerke entstehen hier. Ehrfürchtig schauen wir zu, wie der Töpfer den Skulpturen Leben einhaucht.

Zeit für einen Kaffee. Wir steuern das Indian Coffee House direkt neben der Universität an. Seit der Eröffnung 1942 ist es DER Treffpunkt der Intellektuellen und der Künstler. Neben den Studenten sitzen die Professoren an den Tischen. Der Saal ist groß, die Decken hoch. Ich bewundere die Bilder an den Wänden, fast wie eine Ausstellung.

Von der Galerie habe ich einen guten Überblick über das Geschehen.

Es wird laut diskutiert und gelacht. Dazwischen jonglieren die Kellner mit Turbanen ihre vollen Tabletts zu den Tischen.

Wieder zurück auf der Straße ergeben wir uns dem Sog des größten Büchermarktes Indiens.

Unter den Arkaden ist alles komplett mit Büchern zugestellt, in Bögen, Türen, Fenster und auf dem Boden stapeln sich Millionen von Büchern. Vom pathologischen Handbuch bis zu Paulo Coelho findest du hier jedes Buch.

Stundenlang könnte ich hier stöbern. Doch die Zeit reicht nur noch für einen kurzen Blick auf die hell erleuchtete Universität und schon bringt uns der Bus zurück. Freud und Leid einer Gruppenreise …

Heute Abend breche ich aus. Schon bei unserer Anreise hatte ich entdeckt, dass sich auch hier in Kalkutta eines der Hotels befindet, die ich zu Beginn meiner Reise genießen durfte. Eben höre ich noch die lauten Geräusche des Neuen Marktes, als ich durch das Tor schlüpfe und in eine Oase der Ruhe eintauche. Ich genieße ein Glas Wein und geh in Gedanken noch einmal durch diesen bewegenden Tag.

Im nächsten Artikel geht es um

  • Wann Indien am saubersten ist
  • Wie ich einen „Heiligen Morgen“ erlebte
  • Welches die Wahrzeichen Kalkuttas sind
  • Was die Göttin Kali noch heute für eine Macht ausübt
  • und um den größten Blumenmarkt Asiens

 

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Kalkutta – City of Joy, die nicht am Ganges liegt

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Kalkutta und ihre Wahrzeichen – Tag 3

  1. Birgit

    Ach, ich freue mich schon so! Ich muss mir den Tag mal genauer aufschreiben, damit ich ihn „nachmachen“ kann in 2 Monaten!

    • Yvonne

      Jaaa – Kalkutta hat soviel zum Entdecken und morgen kommen noch einige Anregungen. Du wirst die drei Tage gut brauchen 🙂

  2. So, Kalkutta ist gebongt für den nächsten Trip. Alles deine Schuld 😎!

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