Nur einen vollen Tag habe ich noch für Hanoi und den möchte ich intensiv nutzen, um mehr über Land und Leute zu erfahren. Auch diesmal ist das Universum auf meiner Seite, denn der deutsche Journalist Christian Oster, der seit 15 Jahren in Hanoi lebt, antwortet auf meine kurzfristige email Anfrage direkt.
HanoiKultour bietet neben vielen anderen interessanten Touren auch einen Gang durch Kultur und Geschichte von Hanoi. Seinem heutigen Stadtrundgang darf ich mich anschließen. Und so sind wir zu sechst, die gemeinsam durch Hanoi wandern.
Vietnam verfügt wie kein anderes Land Südostasiens über hohes Wachstumspotential. Die Mehrzahl der 90 Millionen Einwohner ist jünger als 30 Jahre und sie haben hohe Ziele: Seit 2008 Schwellenland, strebt Vietnam 2020 den Aufstieg zum Industriestaat an. Große Diskrepanzen gibt es dabei zwischen Land-und Stadtbevölkerung. 70 bis 80% der Einwohner leben auf dem Land in Armut. Alkohol, Drogen und Gewalt sind auf der Tagesordnung.
Im krassen Gegensatz dazu stehen die Städte. Allen voran Saigon im Süden des Landes, aber auch Hanoi befindet sich einem gewaltigen Wandel.
Über 1000 Jahre ist es her, das König Ly Thai To Hanoi zur Hauptstadt machte. Damals hieß sie noch Thang Long – Stadt des aufsteigenden Drachens.
Gut 800 Jahre später erklärten die Franzosen die Stadt, nun Hai Noi hieß (Stadt an der Biegung des Flusses) zum Regierungszentrum von ganz Indochina.
Es folgte eine wechselvolle Geschichte: im zweiten Weltkrieg marschierten die Japaner ein, im Winter 1972 folgten Luftangriffe der Amerikaner.
Heute ist Hanoi eine sehr lebendige Stadt zwischen Vergangenheit und Zukunft. In den Straßen der Altstadt reihen sich die Garküchen aneinander, Frauen schieben auf ihren Fahrrädern frisches Obst über die Straßen, um es zum Verkauf anzubieten. Auf der anderen Seite gibt es die Hochhäuser mit ihren schillernden Rooftopbars . Neben den vielen Mopeds reihen sich Luxusautos aneinander.
In dem Gewirr der Gassen erklärt uns Christian das Leben hier. Wir lernen, dass 98% aller Vietnamesen Konfuzianer sind, also eher einer philosophischen Lehre statt einer Religion folgen.
Im Zentrum der Lehre steht der Mensch als Teil der Gesellschaft. Es gibt fünf „Gebote“, an denen sie sich zu orientieren haben: Nächstenliebe/ Gerechtigkeit/ Anstand (was hier bedeutet: niemals das Gesicht nach außen zu verlieren), Weisheit und Aufrichtigkeit. Daraus wiederum entstehen drei soziale Pflichten: Loyalität (meint Untertanentreue), Folgsamkeit und Respekt gegenüber Eltern und Ahnen) und Wahrung von Anstand und Sitte. Aus konfuzianischer Sicht geht es dabei im wesentlichen um Einhaltung von Hierarchien. Das genau ist wohl der Punkt, warum Kommunismus und Kapitalismus hier Hand in Hand gehen können. Auf der einen Seite die Sehnsucht nach Reichtum und Wohlstand, auf der anderen Seite die Wahrung von Unterordnungsverhältnissen.
Hier sind Tempel auch eher Gemeindehäuser, während in Pagoden der Buddhismus praktiziert wird.
Christian nimmt uns mit in eines der Tunnelhäuser. Handtuchschmal sind die Gebäude, doch gehen weit in die Tiefe. Die schmalen und langen Parzellen waren einst Reisfelder. Je weniger Fläche das darauf gebaute Haus zur Straße aufwies, um so weniger Steuern musste man zahlen.
Noch heute wohnen alle Generationen unter einem Dach. Die Häuser sind offen, so sehen wir die Oma neben ihrem Enkel auf dem Bett sitzen. Vietnam ist kein Sozialstaat, Rentenversicherung kennt man hier nicht. Für die Ausbildung ist Schulgeld zu bezahlen. Die Gemeinschaft der Familie dient dem überleben. Meine Frage an Christian, ob die Menschen trotzdem zufrieden sind, bejaht er. Ein isolierter Lebensabend in einem Altenheim ist hier schlicht nicht denkbar.
Mittag essen wir in der Strassenküche einer 85 jährigen Dame. Hier gibt es die beste Bun Cha der Stadt. Auf Plastikstühlen genießen wir das aromatische Gericht und erfahren, dass sie mit ihren Einkünften drei Familien ernährt.
Christian führt uns durch die Hinterhöfe und die Grosshandelsmärkte. Sozialer Neid ist hier nicht bekannt. So leben nach konfuzianischem Stil ganz Reich und sehr Arm entspannt nebeneinander.
Kaffee trinken wir in einem kleinen Laden, der auch Katzenkaffee anbietet. Kennt ihr die Geschichte der speziellen Kaffeemarke, welche ursprünglich aus den Exkrementen einer speziellen Wildkatze stammt, die Wildkaffee frisst und dann verdaut? Der niedrige Preis für den der Kaffee hier angeboten wird, lässt schlussfolgern, dass wohl eher der Mythos verkauft wird.
Übrigens ist Vietnam nach Brasilien der größte Kaffeeexporteur der Welt. Die Franzosen haben ihn im Zuge der Kolonialisierung hierher gebracht. Die Bohne ist leider nicht für besondere Qualität bekannt. Wir haben ihn mit viel süßer Kondensmilch getrunken, das war allerdings recht lecker
Zum Abschluss unserer gemeinsamen Tour besuchen wir den Literaturtempel, der eigentlich gar kein Tempel ist, sondern die älteste Universität Hanois darstellt.
Dann geht es für mich allein weiter. Ich wandere zum Ho-CHI-Minh Mausoleum, das ich heute nur von außen besichtigen kann. Lange Zeit war Ho-Chi-Minh, um den sich viele Legenden ranken, der Volksheld in Vietnam. Hat er sich doch für die Unabhängigkeit Vietnams ein und diese auch durchgesetzt. Eine Umfrage unter der heutigen Generation hat allerdings ergeben, dass das heutige Vorbild eher Bill Gates ist…
Meinen Abend beginne ich mit einem Besuch des Wasserpuppentheaters, das es schon seit dem 11. Jahrhundert in Vietnam gibt. Ein kleines Orchester begleitet die Aufführung.
Hinter einem Vorhang stehen die Akteure im Wasser und schieben die Puppen über die Bühne. Eindrucksvoll bewegen diese alle Gliedmaßen.
Dargestellt wird eine der Geschichten; die sich auf dem Hoan-Chien-See zugetragen haben soll. Auch wenn die Vorführung sechsmal am Tag stattfindet, hat sie für mich nichts von ihrem Reiz verloren.
Nach meinem Abendessen spaziere ich ein weiteresmal um den See. Am Wochenende ist hier verkehrsberuhigte Zone. Wo am Vormittag noch die Motorroller hupend das Sagen hatten, schaue ich nun tanzenden Paaren beim Slow Fox zu.
Noch ist es für mich kaum vorstellbar, dass ich morgen Asien verlassen werde.
Zwei intensive Monate liegen hinter mir und ich nehme soviel Eindrücke und Erlebnisse mit, die mich lange begleiten werden …
Katharina
Liebe Yvonne,
Sehr schöner Artikel, auch ich habe Vietnam so in Erinnerung. Mehrere Generationen auf engstem Raum, Respekt und Zusammenhalt in der Bevölkerung. Du hast viele Emotionen beschrieben und eingefangen! Ich wünsch Dir noch viele solcher Momente auf Deiner Reise!
Alles Liebe,
Katharina
Sylvia
Liebe Yvonne,
ich kann es kaum glauben – erst kürzlich habe ich das wundervolle Buch „Sungs Laden“ von Karin Kalisa gelesen. Und in diesem Buch geht es unter anderem um die Faszination „Wasserpuppentheater“. Die ganze Zeit schon wollte ich mal schauen, ob ich irgendwo Bilder davon finden kann – und habe es dann im Alltagstrott doch vergessen. Und du – servierst sie mir doch glatt auf dem Silbertablett. Ich möchte unbedingt mehr darüber erfahren, wenn du wieder daheim bist.
Genieß die weitere Reise. Ich freue mich, wieder von dir zu lesen.
Liebe Grüße
deine Sylvia