Gegen 8 Uhr sitze ich beim Frühstück allein im Herrenhaus. Der Hausherr versichert mir zwar, die anderen Pilger wären schon weg. Ich glaub aber eher , ich hatte das Haus für mich allein.
Die letzte Etappe nach Santiago de Compostela liegt vor mir. Mit Gongschlag 9 Uhr starte ich ein wenig aufgeregt an der beeindruckenden Kirche von Escravirude.
Herrlicher Sonnenschein begleitet meinen Weg. Durch den fünf Kilometer Vorsprung auf Padron , dem eigentlichen gestrigen Etappenende, bin ich ganz allein und genieße es in vollen Zügen
Die spanische Landschaft zeigt sich heute noch einmal von ihrer schönsten Seite.
Ihre Antwort darauf, dass ich bisher den portugiesischen Teil als den schöneren empfunden habe. Auch die Menschen in Portugal waren so herzlich. Bei jedem, der mir einen Bom caminho wünschte, hatte ich den Eindruck , der Wunsch kommt aus vollsten Herzen und ist sehr persönlich gemeint.
Nachdem ich gestern so traurig war , dass ich mich habe durch den wunderbaren Wald hetzen lassen , schickt mir das Universum heute noch einmal für mich allein eine lichtdurchflutete und großartige Waldpassage.
Später komme ich an einem Café vorbei , dem ich keine Bedeutung zumesse, da es noch viel zu früh für eine Pause ist . Doch dann höre ich meinen Namen rufen. Emett und Gon sitzen dort , später kommen noch andere aus der „Bergetappengruppe“ dazu. Ich freue mich riesig , endlich auch Gon wieder zu sehen , die Holländerin, an die ich seither bei jedem Abstieg denke: Wenn du Angst hast , Yvonne , dann renn , renn einfach den Berg runter. Sie hat es vorgemacht und ich bin ein Stück gemeinsam mit ihr den Berg hinab getanzt.
Während ich noch Kaffee trinke, will sie schon weiter und als ich maule, verspricht sie, wir sehen uns bald wieder.
Die Etappe fliegt nur so unter meinen Füßen dahin. Das Adrenalin lässt alle Schmerzen vergessen, meine Gefühlslage schwankt und ich weiß nicht genau, ob ich lachen oder weinen soll.
Einige Meter hinter mir laufen Sören und Miriam , die mir vor einigen Tagen von Ihrem Weltreiseprojekt erzählt haben.
Während ich noch darüber nachdenke, ob ich mich zurückfallen lasse, um mit den beiden zu schwatzen, sehe ich ihn, den ich gestern schon schmerzlich vermisst habe. Mit seinem schweren Rucksack , den Handschuhen und dem typischen Gang läuft Miguel aus Peru in einer kleinen Gruppe direkt vor mir.
Ich schließe auf und wir begrüßen uns herzlich. Jetzt ist der sowieso schon einzigartige Tag perfekt.
Für meine Energie ist die Gruppe leider zu langsam und so schreite ich schnell voran.
Fünf Kilometer vor dem Ziel beginne ich darüber nachzudenken , mit wem ich jetzt, hätte ich die Wahl, gern gemeinsam ankommen würde. Und da sitzen sie dann auch schon , machen Pause unter einer Brücke und freuen sich , mich zu sehen : Emmet von den Philippinen , May aus Irland und Terri aus den Vereinigten Staaten – ein Teil meine Bergetappengruppe – ich kann es nicht glauben.
Und so gehen wir gemeinsam los, erreichen die Ausläufer der modernen Stadt Santiago, die immerhin fast 90.000 Einwohner hat. Die Ausschilderung wird immer schlechter und fast geht dabei das Hochgefühl verloren. Tiefpunkt dessen sind zwei Schilder , die in gegensätzlichen Richtungen zeigen.
Wir entscheiden uns für eine Richtung und laufen schweigend weiter. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Und dann geht alles ganz schnell , die Altstadt auf dem Berg liegt vor uns. Wir gehen direkt auf die Kathedrale zu und ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Wir haben es geschafft. Lachend und weinend liegen wir uns in den Armen. Keiner von uns bemerkt die Regentropfen, die auf uns fallen.
Miguel ist auch da und wir gratulieren uns gegenseitig zu unserer Ankunft.
Hunger haben wir nun und beschließen , bevor wir uns in unsere Hotels verabschieden , noch gemeinsam essen zu gehen. Gon, die in der Zwischenzeit dazu gekommen ist, und ich beschließen , zuerst in der Kathedrale eine Kerze anzünden. Sie ist das dritte Mal von einem der Jakobswege in Santiago angekommen und führt mich nun durch diese beeindruckende Kathedrale. Wir bestaunen den über 50 Kilogramm schweren Botafumeiro, den Weihrauchkessel, der früher geschwenkt wurde , um den heftigen Geruch der Pilger zu überdecken , stehen in der Krypta am Grab des Jakobus und gehen durch den Kirchenraum hinauf zum mit Gold geschmückten Jakobus. Die Pilgerreise gilt erst dann als beendet, wenn der Apostel umarmt ist. So lege ich meine Arme um ihn und vertraue ihm meine Wünsche an.
Als wir ins Restaurant kommen, haben die anderen Ihr Essen bereits beendet und so sitzen wir zu zweit , reden über das Leben und die Liebe. Gon ist mir unglaublich vertraut , fast gleichaltrig sehe ich in ihr mein geistiges Spielbild und bei ihren Erzählungen , denen ich so gern zuhöre , verstehe ich , was das Universum mir sagen möchte.
Wir verabreden uns, später gemeinsam zur Messe zu gehen und ich beziehe mein Hotelzimmer. Wenn ich mich weit genug aus dem Fenster beuge, sehe ich einen Turm der Kathedrale.
Den Rucksack für einen Tag in den Schrank zu stellen , ist ein gutes Gefühl. Nach der Dusche hält mich nicht viel im Hotel , die Sonne scheint und schon stehe ich wieder auf dem Platz vor der Kathedrale und sehe immer neue Pilger ankommen.
Bald strömen die Menschen in die Kathedrale. Es scheint unmöglich , hier ein bekanntes Gesicht zu entdecken, doch schon sehe ich Sandra , Emett, Anni und Jane an eine Wand gelehnt. Gon, Terri, May und Carmel kommen noch dazu. Das erste Mal überhaupt, seit ich ihnen begegnet bin, ist die Gruppe nun komplett und ich freue mich unbändig, ein Teil davon geworden zu sein.
Eine Durchsage verkündet , dass heute nicht – wie sonst üblich in der Freitag Abend Messe – der Botafumeiro geschwenkt wird. Sicherheitsgründe werden angegeben. Später wird es Gerüchte über eine Terrorwarnung geben, die hoffentlich nur Gerüchte sind.
Die Kirche ist zum Bersten gefüllt. Aus allen Himmelsrichtungen und von den verschiedensten Jakobswegen sind sie heute hier eingetroffen, die Pilger aus aller Herren Länder. Immerhin ist Santiago nach Rom und Jerusalem eines der bedeutendsten Pilgerziele der katholischen Kirche.
Zunächst wird aufgezählt , welche Nationen sich heute hier versammelt haben. Die Liste ist ewig lang und ich überlege , welche Länder davon ich bewusst selbst auf dem Weg getroffen habe : die größte Population waren tatsächlich die Deutschen. Danach kann ich keine Reihenfolge festlegen : Holländer , Österreicher , Franzosen , Spanier , Portugiesen , Philippinen, US-Amerikaner, Brasilianer , Miguel aus Peru , Australier, eine Czechin kreuzten meinen Camino, der ein Weg des Friedens ist und bei dem sich Völkerverständigung so einfach gestaltet.
Danach singt Maria Asunción, eine Nonne , die mit ihrem glockenhellen Gesang schon Millionen von Pilgern zu Tränen gerührt hat und übt gemeinsam mit uns ein Lied, dass wir mit ihr gemeinsam anstimmen.
Von der spanischen Predigt verstehe ich nur wenig und so schweifen meine Gedanken ab und ich sehe noch einmal die Etappen vor mir, die wechselnden Landschaften , die verschiedenen Emotionen , die großartigen und die traurigen Momente und vor allem die Menschen auf diesem Weg, der einzigartig war. Am Ende des Gottesdienstes liegen wir uns noch einmal gemeinsam in den Armen
Anschließend machen wir uns auf den Weg, die Compostela abzuholen. Wir sind zu spät am Pilgerbüro , das macht aber gar nichts. Morgen ist auch noch ein Tag.
Gemeinsam kehren wir in ein kleines Restaurant ein, danach ist kein Platz mehr frei und der Wirt schließt die Tür zu. Das nenne ich pragmatisch
Wir feiern uns und das Leben. Am Ende des Abends wünsche ich mir ein Gruppenfoto.
Auf dem Platz vor der Kathedrale spielen Spanier zum Tanz auf. Ich bleibe kurz stehen, aber dann ist es an der Zeit , diesen denkwürdigen Tag zu beenden.
Sylvia
Kurz und bündig: Ich wusste, dass du es schaffst!!!
Und ich kann mir den Strudel von Emotionen annähernd vorstellen, der dich heute bewegt haben muss. Ich freue mich riiiiesig mit dir.
Gute Nacht!
Und bis bald!
Deine Sylvia