11. Etappe von Caldas de Reis bis Cruces

Da es auch gestern wieder viel zu spät geworden ist, schreibe ich heute morgen nach dem Aufwachen mein gestriges Tagebuch , frühstücke spät und laufe erst gegen 10 Uhr los. Die Worte von Miguel noch im Ohr, ist es mein Wunsch, mich heute mit allen Sinnen dem Weg und mir selbst zu widmen. 

Petrus meint es heute gut mit uns. Die Sonne scheint , der Himmel ist tiefblau und die Luft ist so klar , dass man sie trinken möchte. 

Der Weg ist wunderschön und führt durch eine sanfthügelige Landschaft. 


Ich verfalle in den mir schon bekannten Flow und beginne wieder an mein ungeschriebenes Buch zu denken. Die Idee lässt mich einfach nicht los. Ich reflektiere die vielen Bücher, die ich im Vorfeld über den camino Portuguese gelesen habe – manche informativ , manche emotional , manche unterhaltsam. In der Gesamtheit doch schon recht viele – verträgt die Welt dann noch ein weiteres ? Ich entscheide mich heute für ein klares Ja , denke schon ein bisschen übers redigieren nach – über das kürzen und über das hinzufügen ( ich hab ganz wenig über die Orte auf dem Weg geschrieben , das fehlt ), darüber , dass ich mich endlich mal für eine Zeitform entscheiden müsste und natürlich darüber , dass ich schon genau weiß , wen ich mir als „Lektorin“ wünsche. Dann bleiben meine Gedanken am bloggen hängen. Wie sehr ich es mag , schon während des Tages meine Gedanken in Worte zu fassen , wieviel Spaß es mir macht , mit offenen Augen nach Fotomotiven zu suchen und wie gern ich unterwegs bin. Perfekte Reiseblogger Eigenschaften, aber wie macht man das denn nun wirklich professionell? 

Noch in Gedanken versunken , schließe ich zu einer sympathischen Brasilianerin auf. Sie ist gemeinsam mit ihrer österreichischen Freundin und Geschäftspartnerin unterwegs. Ihr gemeinsames Business : Travel Blogger. Ich fasse es nicht, was geht auf diesem Weg vor sich? Wie oft in den letzten elf Tagen hat mir das Universum genau die Antworten auf die Fragen gegeben, die ich gesucht habe ? 

Wir schließen zu Elena, ihrer Freundin , auf und ich quetsche sie aus zu all den Dingen , die mich zum Thema bloggen bewegen. Am nächsten Kaffeestopp gibt sie mir ihre Karte und ich beschließe , mich dem Thema noch einmal intensiver zuzuwenden. 

Dann laufe ich allein weiter und erreiche das schönste Waldstück des gesamten Weges. Leider ist mir ein kompletter Schulausflug mit gefühlt eintausend Jugendlichen auf den Fersen und so lasse ich mich etwas hetzen. Bei der ersten Gelegenheit entwische ich den Massen und gönne meinen gar nicht mal so geschundenen Füßen Frischluft. 


 Noch etwas später ist Mittagspause. Es gibt Patatas frites, abnehmen ist echt nichts für den camino. 

Einige Zeit später erreiche ich Padron ( der Ort, der für die leckeren Pimentos de Padron steht) treffe ein paar bekannte Gesichter – unter anderen meine Philippinen – und freue mich , dass meine Übernachtung heute noch fünf Kilometer entfernt ist und ich noch etwas weiterlaufen darf. 


Kurz hinter Padron erreiche ich die Kirche von Iria Flavia , die als eine der ersten Marienkirchen überhaupt gilt und der im Laufe der Jahrzehnte Santiago de Compostela den Rang ablief. 


Der Ort strahlt die absolute Ruhe aus. Und obwohl ich weiß , wie schwierig es werden wird , mich noch einmal für vier Kilometer aufzuraffen , lege ich auf der Kirchenmauer eine ausgedehnte Pause ein und genieße den Augenblick … 


Eine gefühlte Ewigkeit später mache ich mich wieder auf den Weg und hänge meinen Gedanken nach. Nur noch eine Tagesetappe und ich stehe vor der Kathedrale in Santiago de Compostela. Schon der Gedanke daran treibt mir die Tränen in die Augen. Glück , Freude und Demut wechseln sich ab. 

Ich überlege , welchen Grund ich morgen im Pilgerbüro nennen werde, um die Compostela , die Urkunde, die den zurückgelegten Weg bestätigt , zu erhalten. Noch bin ich gar nicht so sicher ,ob ich mich in die lange Schlange einreihen werde, aber ein Teil meines Herzens hat sich schon dafür entschieden.    

Religiös scheidet aus. Ich glaube nicht an den einen allmächtigen Gott. 

Andererseits ungläubig bin ich nicht. 

Ich glaube an eine universelle Kraft , an meine eigene Kraft , mittlerweile auch immer mehr daran , dass alles in unserem Leben einen Sinn hat. Sollte ich jemals daran gezweifelt haben , hat mich der Camino genau dies gelehrt. 

Bleibt also (wenn man nicht sportliche Gründe angeben möchte ) die Spiritualität. 

Um sicherzugehen , google ich den Begriff noch einmal. Wikipedia hilft hier nur bedingt weiter. Die Definition von Ralf Senftleben (Zeit zu leben) trifft es für mich schon eher …

„Spiritualität, das bedeutet für mich, das Geistige, nicht Sichtbare anzuerkennen und seine Existenz zuzulassen. Ohne dass ich seltsame Erklärungsmodelle drumherumstricken muss. Spiritualität ist wichtig für uns. Ich glaube, dass es das Menschsein ausmacht. Wer bin ich? Wozu bin ich da? Warum bin ich hier? Habe ich eine Aufgabe hier auf dieser Welt? Was kann ich beitragen? Wie kann ich über mich selbst hinauswachsen? Wie kann ich meine eigenen Begrenzungen überschreiten? Wie kann ich die bestmögliche Version meiner selbst werden? “

Ich mag dieses Zitat, trifft es doch sehr genau , was ich empfinde. 

Eine liebe Freundin hat mir kurz vor Beginn der Reise gesagt , dass sie sich wünscht , ich komme so zurück , wie ich bin. 

Das werde ich auf jeden Fall. Vielleicht ein bisschen bewusster , vielleicht ein bisschen entspannter , vielleicht mit etwas mehr Vertrauen in mich selbst – aber immer noch ich   


Ich erreiche das Haus , in dem ich heute übernachten werde. Freue mich auf mein Glas Weißwein nach der Dusche und sehe den einheimischen Männern am Nachbartisch zu, wie sie Karten spielen


Es ist das einfache, was unser Leben lebenswert macht … 

Nur noch 17 Kilometer bis Santiago ….  

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  1. Ach, Yvonne, ja, ich bin auch überzeugt, dass alles, was uns passiert, einen Sinn hat. Manchmal verstehen wir ihn nicht sofort, sondern erst „aus der Rückspiegel-Perspektive“ betrachtet. Ich habe in den letzten Jahren aber auch gelernt, dass es ein Gewinn ist, nicht immer verstehen zu müssen, sondern einfach auch glauben zu können. Das entkrampft so vieles. Man fühlt sich nicht mehr als Kämpferin, sondern als Getragene. Was für eine Er-leichter-ung!!!
    Ich freue mich sooo sehr mit dir, dass du mehr und mehr den Mut findest, dich dem Reise-Bloggerinnen-Traum zu nähern. Was für ein Zeichen, dass du genau da die Leute triffst, die dir beim Verwirklichen Unterstüzung geben können! Ich bin überzeugt, dass du das schaffen kannst!
    Und für deinen Buchtraum habe ich auch eine Idee, was wir Neues machen könnten. Dazu später mehr …
    Guten Weg nach Santiago! Ich bin gespannt auf das, was du über diesen Tag schreibst.
    Eine herzliche Umarmung
    Sylvia

  2. Hallo „kleine“ Schwester,

    ich bin wie Du, mir fehlt der erste Satz. Aber nicht’s desto trotz, ich bin jeden Tag mit den Gedanken bei Dir und bin unheimlich stolz auf Dich.
    Ich freue mich für Dich, dass Dir so viele Menschen mit so viel Liebe auf Deinem Weg begegnen.
    Du bist viel, viel stärker als Du glaubst.

    Auf ein „nun endlich“ baldiges Wiedersehen
    Deine Schwester

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